Weinbau (fast) ohne Pflanzenschutz

Vor über 30 Jahren pflanzte Hans-Peter Baumann die ersten Piwi-Reben im Oberwallis. Wir haben mit ihm über die Idee dahinter und den Weg dorthin gesprochen.

Artikel von: Marcel Bircher O+W Wallis-Korrespondent
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe von Obst+Wein 05 / 2023 , S. 14

Hans-Peter Baumann wächst in Sempach (LU) auf und schliesst zunächst eine Banklehre ab. Die Arbeit im Büro kann ihn aber nicht begeistern, er wechselt in die Landwirtschaft. 1976 kommt der 22-Jährige ins Wallis und nimmt eine Stelle im Gutsbetrieb der St. Josef-Stiftung an. Er erwirbt das Diplom als Landwirt, Fachbereich Obstbau. Irène Zimmermann aus Visperterminen tritt in sein Leben und bringt 700 m2 Reben mit in die Ehe. Hans-Peter fängt Feuer und macht berufsbegleitend Rebbau- und Kellertechnikkurse in Wädenswil. Er verdient sich seine Sporen als Rebmeister bei der Kellerei Chanton. 1998 ist die Zeit reif, sich selbstständig zu machen. Das Ehepaar richtet in der ehemaligen Sennerei von Turtmann seinen Keller ein, der nach ihren Kindern Diego, Roman und Sonja DIROSO benannt wird (Einsgtiegsbild: drei Generationen Baumanns). Im September 2019 übernehmen die Söhne die Leitung der Firma und beziehen den neuen Keller ausserhalb des Dorfes. Die Tochter lässt sich nach dem Önologiestudium im Beaujolais nieder. Heute bewirtschaftet die Familie Baumann eine Fläche von etwa 4.5 ha Reben, knapp die Hälfte davon sind resistente Sorten, Tendenz steigend. Der Spritzplan für die traditionellen Rebsorten ist biologisch, Herbizide kommen schon lange nicht mehr zum Einsatz. Trotzdem ist DIROSO nicht Bio-zertifiziert. Er wolle sich nicht mit einem Label schmücken, unter dem man seine Reben 20-mal pro Jahr spritzen dürfe, meint der Seniorchef. Die seinerzeitige Forderung des Piwi-Pioniers Pierre Basler (Forschungsanstalt Wädenswil, heute Agroscope) sei aktueller denn je: In der Bioverordnung müsste in Art. 11 «geeignete Arten- und Sortenwahl» explizit durch «Wahl von pilzwiderstandsfähigen Sorten» ersetzt werden. Das käme auch dem Wunsch vieler Kunden nach möglichst unbehandelten Produkten entgegen. Hans-Peter Baumann arbeitet nach wie vor im Familienbetrieb und ist in der IG Piwi Wallis engagiert.

Obst+Wein: Herr Baumann, im Februar sah ich Sie in einer betriebsfremden Parzelle. Haben Sie Zeit, um für andere die Reben zu schneiden?
Hans-Peter Baumann: Weit gefehlt. Ich habe Edelreiser von Seyval blanc geschnitten, auf Anfrage einer grossen Rebschule. Wenn wir in unserem Betrieb zu wenig Pflanzenmaterial haben, kann ich auf die Kolleginnen und Kollegen des Vereins Piwi Wallis zählen.

Seyval ist eine Sorte, die eher für kühlere Regionen empfohlen wird. Ist es sinnvoll, sie im Wallis anzupflanzen?
Mit Seyval lassen sich hier sehr schöne Weine machen, vorausgesetzt, man limitiert den Ertrag. Die Aromatik bewegt sich zwischen Fendant und Johannis. Diese Rebe ist also wie geschaffen für das Wallis.

Muss also jede einzelne Sorte auf ihre Eignung geprüft werden?
So ist es. Ich habe gegen 50 verschiedene Piwi-Sorten getestet, etwa 15 davon haben sich für die hiesigen Verhältnisse als geeignet erwiesen. Es geht dabei natürlich nicht nur um rebbauliche Aspekte, auch die Weine müssen überzeugen.

Und wie sieht es mit den Unterlagen aus?
Unsere heutigen Piwi-Sorten sind nicht immun gegen die Reblaus. In der Züchtung stehen Resistenzen gegen Pilzkrankheiten im Vordergrund. Das Problem kann mit einer amerikanischen Unterlage gelöst werden. In der Anfangsphase pfropften wir alle neuen Reben auf 5BB, da wir mit dieser Wurzel gute Erfahrung gemacht hatten. Es zeigte sich aber, dass starkwüchsige Sorten wie Chambourcin oder Bianca schwächere Unterlagen benötigen.

Welche Pflanzenschutzstrategie fahren Sie bei den resistenten Sorten?
Wir spritzen unsere Piwis normalerweise nicht, das ist der springende Punkt. Das Wallis mit seinem trockenen Klima, dem stetigen Wind und den durchlässigen Böden bietet die perfekten Voraussetzungen dafür. Mit einer Berieselung würde man diese Vorteile wieder aus der Hand geben. Wo nötig, haben wir deshalb eine Tröpfchenbewässerung installiert, was auch hinsichtlich des Wasserverbrauchs angebracht ist.

Hat diese Strategie auch 2021 funktioniert?
Nein, in diesem ungewöhnlich nassen und kühlen Sommer musste ich zum ersten Mal überhaupt mit der Elektrospritze ausrücken. Im Juli zeigten sich beim Souvignier gris und beim Cabernet blanc Infektionen vom Falschen Mehltau auf den Blättern. Zwei Behandlungen mit der Bordeaux-Brühe reichten aus, um die Lage in den Griff zu bekommen. Am Ende konnten wir bei allen Piwis, auch den ungespritzten, einen normalen Ertrag ernten. Während bei den traditionellen Sorten 40 % und mehr Verlust zu verzeichnen war, beim Merlot praktisch 100 %.

Wie sind Sie auf die interspezifischen Sorten gestossen?
Das erste Mal hörte ich an einem Vortrag bei der Rebschule Meier von resistenten Rebsorten, allerdings im Zusammenhang mit Tafeltrauben. Während meinen Rebbaukursen in Wädenswil kam ich in Kontakt mit Pierre Basler, der an der Forschungsanstalt mit Piwis experimentierte. Er hat mich ermutigt, die neuen Sorten im Wallis auszuprobieren. Für mich war sofort klar: Falls die Möglichkeit besteht, Weinbau ohne die mühselige Spritzerei zu betreiben, wollte ich das unbedingt versuchen.

Ich kann mir vorstellen, dass damals im Wallis kein grosses Interesse an neuen Rebsorten vorhanden war.
Die ersten Versuche ab 1991 habe ich inoffiziell unternommen. Später musste ich für jede Pflanzung eine Sonderbewilligung der Dienststelle für Landwirtschaft beantragen. Das waren harte Kämpfe, bei denen die ab-strusesten Gegenargumente ins Feld geführt wurden, etwa gesundheitlicher Art. Mit der Zeit und mit personellen Wechseln wurde die Stimmung positiver. Mitte der Neunzigerjahre hat die kantonale Landwirtschaftsschule in Châteauneuf erste Piwis angepflanzt. Auf die Idee, daraus Wein zu machen, kam man allerdings nicht. Ich habe die Trauben abgeholt und bei mir im Keller gekeltert, leider erhielt ich keine Rückmeldung zum fertigen Wein. 2005 wurden sechs Piwi-Sorten ins AOC-Reglement aufgenommen. Letztes Jahr endlich hat der Kanton Wallis zusammen mit Agroscope das «Netzwerk resistente Sorten Standort Wallis» aufgezogen. Im Unterwallis schaut man nun etwas neidisch auf unsere langjährige Erfahrung, selbstverständlich stehen wir bereits im Austausch.

2002 haben Sie mit einigen Mitstreitern die «Walliser Interessengemeinschaft zur Förderung der Piwi-Rebsorten» gegründet. Wie kam es dazu?
Die Anregung dazu kam erneut von Pierre Basler, der 1999 Piwi International gegründet hatte. Die Situation für die Piwi-Pioniere war damals nicht einfach, sie kämpften mit Akzeptanzproblemen, ungeeigneten Sorten und mangelhaften Weinqualitäten. Die Idee war, an einem idealen Standort die Piwi-Entwick-lung zu forcieren. Inzwischen hat der Verein rund 50 Mitglieder aus der Deutschschweiz und dem Oberwallis, seit Kurzem ist auch jemand aus dem Unterwallis dabei. Heute stehen zwischen Brig und Salgesch etwa 8 ha Piwi-Reben, wobei die gesamte Rebbaufläche knapp 500 ha beträgt.

Sie haben eine eigene Rebsorte gezüchtet. Ist sie pilzresistent?
Unsere exklusive Sorte Mennas ist eine Kreuzung zwischen Gewürztraminer und Gwäss (zu dessen Herkunft s. Interview mit Josy Chanton, O+W 1/23). Es dauerte 18 Jahre, bis der Wein in der Flasche so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: körperreich, mit der Aromatik des Gewürztraminers und der Säure vom Gwäss. Das Vorhaben, mit Bianca zusätzlich resistente Gene einzukreuzen, spare ich mir für den Ruhestand auf.

Piwi-Weine sind noch immer ein Nischenprodukt. Wird sich daran in nächster Zeit etwas ändern?
Das Jahr 2021 hat bei vielen Biowinzern zum Umdenken geführt, vor allem in der Deutschschweiz. Sie haben einfach genug von der ewigen Spritzerei. Ich bin überzeugt, dass sich viele Kundinnen und Kunden vom Argument der «naturnahen Weine» überzeugen lassen, wenn man sie an das Thema heranführt. Bald werden neue Sorten auf den Markt kommen, die punkto Resistenzen und önologischem Potenzial noch einen Schritt weiter sind. Und ab diesem Jahr können die Kantone Finanzhilfen an die Pflanzung von robusten Rebsorten gewähren. Das Ziel ist, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren.

Ein wiederkehrendes Thema bei Piwi-Sorten ist der Name. Wie machen Sie einer Kundin oder einem Kunden einen Gf-Ga 48–12 schmackhaft?
Diese deutsche Züchtung aus den Sechzigerjahren hat bis heute keinen offiziellen Namen, wir nennen sie einfach Goldwin. Bei der Namensgebung von Sorten und Weinen ist etwas Fantasie gefragt. Unsere roten Assemblagen heissen Tambour oder Cabre noir. Viele Weinliebhaber interessieren sich ja auch nicht dafür, aus welchen Traubensorten ein Amarone oder ein Dôle gemacht wird. Und wenn doch, sind wir mit ihnen im Gespräch. Hauptsache, der Wein kommt gut an.

Sehen Sie für die pilzwiderstandsfähigen Rebsorten im Wallis eine Zukunft?
Letztes Jahr hatte ich einige Vertreter von grossen Kellereien zu Besuch. Es geht da nicht nur um Umweltthemen, sondern auch um Ressourcen. Fungizide sind teuer, der Aufwand an Arbeitsstunden und Maschinen für die Spritzungen ist enorm. Es würde schon viel bringen, nur die am schlechtesten zugänglichen Parzellen mit resistenten Reben zu bepflanzen. Wichtig sind auch die physische und psychische Gesundheit der Winzerinnen und Winzer und ihrer Mitarbeitenden. Sie wissen bestimmt, wie es ist, nicht schlafen zu können aus Angst, den richtigen Zeitpunkt für die Spritzung zu verpassen. Für Freizeitwinzernde sind robuste Sorten ebenfalls eine interessante Alternative, falls sie keine Zeit oder keine Bewilligung für den Pflanzenschutz haben. Ab 2026 müssen sie eine Fachprüfung ablegen, um weiterhin selbst spritzen zu dürfen. Übrigens: Von den Seyval-Setzlingen wurden 10 000 Stück bestellt. Soweit ich gehört habe, sollen sie im Wallis gepflanzt werden.

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